Valentin Silvestrov im Exil: «Ich bin in die Musik emigriert» (2024)

Er zählt zu den bedeutendsten lebenden Komponisten Osteuropas. Mit 84 Jahren sah sich Silvestrov nun gezwungen, sein Heimatland zu verlassen. In der Ukraine ist seine charakteristisch leise Musik dennoch zu einem wichtigen Ausdruck des Protests geworden.

Andreas Zurbriggen, Berlin

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Valentin Silvestrov im Exil: «Ich bin in die Musik emigriert» (1)

Als Valentin Silvestrov Anfang März mit Tochter und Enkelin die Flucht aus Kiew antritt, trägt er nur ein einziges Gepäckstück bei sich. Mit einem Koffer voller Manuskripte steigt er in einen Bus, der ihn auf Umwegen in den Westen des Landes fährt. Auf der mehrtägigen Reise verbringt er eine Nacht in einem verlassenen Kindergarten. Nach der Ankunft in Lwiw helfen Journalisten der Deutschen Welle dem Komponisten, an die polnische Grenze zu gelangen. Dort wartet der junge weissrussische Dirigent Vitali Alekseenok, der die Familie Silvestrov schliesslich per Auto an den Zielort Berlin fährt.

Zuvor war es einige Jahre lang ruhig gewesen um den 1937 in Kiew geborenen Valentin Silvestrov. Mit seiner meditativen, stilistisch wenig avancierten Musik wirkte er wie aus der Zeit gefallen. Dessen ungeachtet komponierte er unbeirrt weiter. Auf dem Flügel seiner Kiewer Plattenbauwohnung, die er seit Jahrzehnten bewohnt, entstanden schon während der frühen Phase der Pandemie unzählige kurze Klavierwerke, Bagatellen, aber auch grossangelegte Kantaten. Diese Musik wollte Silvestrov auf seiner Flucht retten, da sie bis dahin weder den Weg zum Verlag noch in seinen Vorlass gefunden hatte, der im Archiv der Paul-Sacher-Stiftung in Basel verwahrt wird.

Der Koffer mit den Manuskripten steht nun in der Wohnung von Tatjana Frumkis. Die in Berlin lebende russische Musikwissenschafterin ist seit Jahrzehnten freundschaftlich mit Silvestrov verbunden, sie überblickt sein ausuferndes musikalisches Schaffen wie niemand sonst, und sie begleitet ihn immer wieder an Konzerte ins Ausland. Erst vor wenigen Tagen reiste sie gemeinsam mit ihm nach Warschau, wo in der Nationalphilharmonie sein 40-minütiges Chorwerk «Psalm» zur Uraufführung kam. Momentan wird Frumkis mit Anfragen zu Silvestrov überrannt, die Ruhe um ihn ist verflogen. Denn seit dem russischen Einmarsch werden Silvestrovs Werke rund um den Globus so häufig gespielt wie nie zuvor.

Die ganze Welt als Maidan

«Es ist ein trauriges Paradox, dass der Krieg in der Ukraine Silvestrovs Musik zu grosser Berühmtheit verhilft», sagt Tatjana Frumkis. Dabei sind es – durchaus überraschend – vorwiegend seine leisen, stillen Werke, die in diesen Tagen zur Aufführung gelangen. Die Berliner Philharmoniker spielten bei einem Solidaritätskonzert im Schloss Bellevue gleich zwei Stücke aus seiner Feder. Und an einem Benefizkonzert in der Metropolitan Opera in New York stand wiederum sein «Gebet für die Ukraine» im Zentrum des Programms.

Dieses Chorstück, das zurzeit aussergewöhnlich grosse Popularität geniesst, schrieb er im Jahr 2014 aus Anlass der Proteste auf dem Kiewer Maidan. Der sogenannte Euromaidan, der in der Ukraine auch als «Revolution der Würde» bezeichnet wird, entstand nach der überraschenden Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union durch die damalige russlandfreundliche Regierung. Silvestrov beteiligte sich auf seine Weise an den Kundgebungen: Er komponierte einen Zyklus mit dem Titel «Maidan 2014», nahm Klavierfassungen der einzelnen Werke in seiner Wohnung auf und stellte sie auf die Videoplattform Youtube. Den Gesangspart übernahm er dabei gleich selbst. Das für Chor a cappella ausgearbeitete «Gebet für die Ukraine» stammt aus diesem Zyklus.

«Nun wird die ganze Ukraine und die ganze Welt zum Maidan», sagt Silvestrov mit Blick auf den derzeitigen Konflikt in seinem Heimatland. Er reagiert darauf auch weiterhin künstlerisch. In Kompositionen für Klavier verarbeitet er seine Gefühle von Verlust, Wut und Resignation. So entstand beim Anblick der Menschenmengen und Autokolonnen an der polnischen Grenze in seiner Imagination eine zerbrechliche Musik von berückender Schönheit. Diese spielte er kurz nach seiner Ankunft in Berlin an einem Friedenskonzert in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – und zwei Wochen darauf nochmals an dem Solidaritätskonzert des deutschen Bundespräsidenten im Schloss Bellevue.

Valentin Silvestrov im Exil: «Ich bin in die Musik emigriert» (2)

Nachhall aus vergangener Zeit

Mitunter greift Silvestrov auch zu anderen Tönen: Erst jüngst komponierte er eine stürmische Pavane, die unmittelbar seinen aufgewühlten Zustand widerspiegelt. Doch diese Pavane ist ein untypisches Werk, das gleichsam aus dem Rahmen seines Schaffens fällt. Dieses wird schon seit Mitte der 1970er Jahre von einer nostalgisch in sich gekehrten Empfindung durchdrungen, Silvestrovs Musik nährt sich aus der Stille und wird wesentlich durch einen lyrischen, überaus klangsensiblen Charakter geprägt. Reminiszenzen an Mozart, Chopin und Mahler vermischen sich darin mit jahrhundertealten Melodiewendungen und Motiven zu einer zeitlos anmutenden Klangsprache.

Zu Beginn seiner kompositorischen Laufbahn kreierte Silvestrov noch gänzlich andere Klänge. Er studierte Hanns Jelineks «Anleitung zur Zwölftonkomposition» und avancierte Ende der 1950er Jahre sogar zu einem führenden Vertreter der «Kiewer Avantgarde». Pierre Boulez förderte seine Musik im Westen, Bruno Maderna dirigierte sie an den Darmstädter Ferienkursen, und sogar Theodor W.Adorno verteidigte sein auf Expressivität zielendes Idiom.

In einem radikalen Bruch wandte sich Silvestrov dann aber während der 1970er Jahre von der westlichen Avantgarde ab und schuf auf der Basis tonaler und modaler Klangmaterialien Werke, die wie ein Nachhall aus einer längst vergangenen Epoche anmuten. Sein 1.Streichquartett von 1974 beginnt mit schwebenden Dreiklängen und Melodiefragmenten, die einen imaginären Raum sachte auszuloten scheinen. Seine zentrale 5.Sinfonie, entstanden zwischen 1980 und 1982, nennt er selbst eine «Postsinfonie», ein Postludium auf vergangene Musikstile.

Lebe wohl, Ukraine

Das Gefühl von Nostalgie und unwiederbringlichem Verlust zieht sich durch seine «Stillen Lieder» aus den Jahren 1974 bis 1977. In diesem zweistündigen Zyklus vertonte Silvestrov unter anderem das Gedicht «Der Traum» des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861), in dem die Unterdrückung der Ukraine angeprangert und dem Land auf immer Lebewohl gesagt wird. Schewtschenko musste wegen seiner kritischen Poesie 1847 ins Exil fliehen.

Umgearbeitet für Orchester und Chor, fand dieses «Stille Lied» Eingang in Silvestrovs «Requiem für Larissa», das er für seine 1996 überraschend verstorbene Frau komponierte. Dass ihn dieser Abschiedsgesang auf die Ukraine in verschiedenen Lebensphasen begleitet hat, erscheint im Rückblick wie eine Vorahnung des Schicksals, das den Komponisten nun selber ereilt hat.

Im März hat Silvestrov seinem Land auf unbestimmte Zeit Lebewohl sagen müssen. Doch der Drang nach einem Leben in Westeuropa, wie ihn viele sowjetische Komponisten verspürten, war bei ihm nie vorhanden. «Ich bin längst in die Musik emigriert», sagte er bei einem Gespräch, das wir bereits vor zehn Jahren führten. Seine Wohnung in Kiew wollte er denn auch nach Kriegsbeginn eigentlich nicht verlassen; seiner Tochter und seiner Enkelin zuliebe liess er sich dann doch überreden. Der Konflikt in der Ukraine hat Silvestrovs Flucht ins Innere zur realen Emigration ausgeweitet.

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