Porträt Valentin Silvestrov | concerti.de (2024)

Schon lange gehört die Musik des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov weltweit zum Repertoire der großen Interpreten. Der in Kiew geborene Künstler besitzt eine seltene innere Freiheit. Silvestrov war immer kompromisslos, auch gegenüber der heimischen Kultur­bürokratie, die sich in seinen früheren Jahren besonders hart allem Neuen entgegenstellte. Das führte zum zeitweiligen Ausschluss aus dem Komponistenverband. Silvestrovs Kompromisslosigkeit betrifft aber auch seine eigene künstlerische Entwicklung, die immer radikal und unvorhersehbar war. Als Zeitgenosse weltweit bekannt gewordener Komponisten wie Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Giya Kancheli oder Arvo Pärt war er einer der bedeutendsten Vertreter der sogenannten ­sowjetischen Avantgarde.

Schon in den sechziger Jahren haben seine in den verschiedensten avantgardistischen Techniken geschriebenen Werke besonders in Westeuropa und in den USA Resonanz gefunden. Silvestrov war jedoch einer der ersten, der dieses stürmisch eroberte Feld wieder verließ. Den entscheidenden Schritt, den einige Kollegen als Verrat an der Avantgarde, als ein „Aufgeben der Position“ empfanden, vollzog Silvestrov schon Mitte der siebziger Jahre. Aus allen vorhandenen musikalischen Stilen schuf er sich seinen eigenen Stil mit einem eigenen Verhältnis zur Musiktradition. Er tut das konsequent mit dem Risiko, unverstanden zu bleiben oder auf dem oberflächlichen Niveau der postmodernen Neo-, Poly- oder Retro-Stile beurteilt zu werden. In diesem Sinne könnte er die Worte des großen russischen Poeten Boris Pasternak unterzeichnen, der in seinem Buch „Luftwege“ schrieb: „Für mich wurden die überraschendsten Entdeckungen hervorgebracht, wenn ein Inhalt den Künstler erfüllte und ihm nicht Zeit zum Überlegen ließ und er in der Hast sein neues Wort in der alten Sprache sprach, ohne darauf zu achten, ob sie alt sei oder neu.“

Der musikalische Raum – aus einer einzigen energischen Schaffensgeste hervorgehend – wird sogleich mit der flimmernden Aura unendlicher Echos gefüllt, durch Pausen ausgedünnt und mit der unerschöpflichen Farbpalette ständig „stiller“ Wohlklänge ausgemalt. Die Musik bewegt sich leichten Schrittes, fühlt sich gewissermaßen weich an, es entsteht damit eine neue musikalische Realität mit ureigenen Zügen und Gesetzmäßigkeiten, einem selbst geschaffenen Kosmos. Leitsterne dieses Kosmos wurden der Vokalzyklus „Stille Lieder“, das erste Streichquartett, die Serenade für Streichorchester, die fünfte Sinfonie, das Postludium und die Metamusik für Klavier und Orchester, das Requiem für Larissa.

Lieder ohne Worte

Die wichtigste Voraussetzung für die Existenz der Musik als Kunst sieht der Komponist in der Melodie. Zu dieser Überzeugung gelangte er aus eigener Erfahrung. Schon in seiner frühen avantgardistischen Periode, aber besonders in seiner Reifezeit hat Silvestrov selbst in seinen großen Instrumentalwerken „die ganze Form wie eine Melodie“ aufgebaut. In den letzten zwanzig Jahren hat sich Valentin Silvestrov viel mit kleinen Gattungen beschäftigt – vor allem für Klavier, aber auch für andere Besetzungen. Es entstand eine ganze Reihe von Stücken mit immer wiederkehrenden Titeln: Elegien, Pastoralen, Wiegenlieder, Postludien, Nocturnes, Barkarolen, Serenaden … Alle diese Titel sind relativ zu verstehen und ersetzen eigentlich den von Silvestrov selbst eingeführten Oberbegriff „Bagatellen“ beziehungsweise die häufig von ihm verwendete Bezeichnung „Lieder ohne Worte“. An den Bagatellen, so der Komponist, interessiere ihn vor allem die Melodie, als Antwort auf „augenblicklich“ aufblitzende und das Ohr des Komponisten nicht mehr loslassende Intonationen, Rufe, Motive. Die kurze Form ermöglicht es, „den Augenblick“ als solchen einzufangen und „anzuhalten“, ohne ihn mit sogenannter „thematischer Arbeit“ zu belasten.

© Stefan Man

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Seit 2005 hat sich ein weiterer, nicht versiegender Strom Silvestrov’scher Melodien gebildet, als sich der Komponist nach einer längeren Pause wieder der Chormusik, darin insbesondere der geistlichen zugewandt hat. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen schreibt Silvestrov aber keine Musik zum Gebrauch im Gottesdienst. Dazu gehören etwa ein Diptychon, in dem der Komponist das Vaterunser mit dem Gedicht „Testament“ von Taras Schewtschenko verbindet, oder der grosse Chorzyklus „Liturgische Gesänge“, in dem sich, wobei er die traditionellen Gattungsbezeichnungen beibehält, auch kanonische und poe­tische Texte abwechseln. Wie auch in seinen zahlreichen Liedern lässt Silvestrov „das Wort sich selbst singen“, ohne den durchsichtigen Chorsatz mit polyfonen Raffinessen zu verschleiern. Das Wesen dieser ein wenig naiven, „stillen“ Musik, so Silvestrov, lässt sich mit einem Satz des berühmten russischen Religionsphilosophen Pawel Florenski umschreiben: „nicht a priori, sondern a posteriori – nicht mit dem Stolz der Konstruktion, sondern mit der Demut der Wahrnehmung.“ Ein besonderer Chorzyklus mit dem Titel „Maidan 2014“ ist eine Art musikalische Chronik des sogenannten Euromaidan, der in der Ukraine auch als „Revolution der Würde“ bezeichnet wird. Das Werk, das aus fünf verschiedenen Vertonungen der ukrainischen Hymne mit dem Text von Pavlo Chubynsky sowie aus den intonierten liturgischen Texten besteht, ist gerade zusammen mit einigen früheren Chorwerken bei ECM, der Plattenfirma, mit der Silvestrov eine langjährige Zusammenarbeit pflegt, erschienen.

Flucht nach Berlin

Am 6. März, kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, verließ der vor Kurzem 85 Jahre alt gewordene Komponist in Begleitung seiner Tochter und Enkelin und nur mit einem Koffer voller Manuskripte die Stadt, in der er geboren wurde, und den Wohnsitz, den er mehr als ein halbes Jahrhundert nicht gewechselt hat. Unter Bomben erreichen sie nach dreitägiger Fahrt mit Hilfe von Freunden Berlin, wo sie sich auf unbestimmte Zeit niederlassen. Als dem wohl bekanntesten lebenden ukrainischen Komponisten wird jetzt Silvestrov eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Doch ist der Maestro vom späten Weltruhm nicht berauscht. Im Berliner Exil arbeitet er unermüdlich weiter. Da sind zum Beispiel die für den Komponisten ungewöhnlich kontrastreichen „Drei Stücke“, ein Zyklus, der teilweise während seiner Flucht aus der Ukraine entstanden ist.

Auf diese Weise reagiert der Komponist weiterhin auf das Geschehen. Und wie immer, macht er das mit leisen Tönen und mit scheinbar einfachen Mitteln. Er sagte: „Manchmal scheint es mir, als gäbe es in meiner musikalischen Sprache nur Terzen und Quinten, wie einige primäre lebendige Phoneme, die die einfachen Dinge des Lebens widerspiegeln, verbunden mit einem Sinn für die Schönheit der Welt und die menschlichen Gefühle.“ Apropos Terzen und Quinten: Die haben den schlichten, aber so wirkungsvollen 13. Satz von „Maidan 2014“ gebildet („Prayer for Ukraine“), das in der Bearbeitung für Chor und ­Orchester bislang unter anderem an der Metropolitan Opera, bei den Bamberger Symphonikern, dem MDR ­Orchester, der Singakademie zu Berlin zu hören war.

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